Perspectief 2016-34

Perspectief 12 Prof. dr. Veronika Hoffmann ablehne. Etwas, das mir entweder gleichgültig ist oder das ich gut finde, muss ich nicht tolerieren. Auf einer anderen Ebene hat Toleranz aber mit Anerkennung zu tun, sonst wäre ich gerade nicht tolerant. So kann ich beispielsweise jemanden, der eine meines Erachtens falsche politische Meinung vertritt, als gleichberechtigten Bürger anerkennen und deshalb nicht versuchen, ihn am Wählen zu hindern. Auf einer eher persönlichen Ebene kann ich jemanden als gute Theologin oder als Freundin anerkennen, aber dennoch in der Sache mit ihr uneins sein. Beide Beispiele zeigen zugleich, dass die Unterscheidung der Ebenen ein Zeichen von persönlicher Reife sein kann. Jedenfalls ist es von erheblicher Bedeutung, Konflikte in der Sache nicht vorschnell auf andere Ebenen zu übertragen. Eine Anerkennung des anderen auf einer persönlichen Ebene muss mit Kontroversen in der Sache kompatibel sein. Freilich dürfte es, ebenso wie es unscharfe Grenzen zwischen den Kategorien der Anerkennung gibt, auch hier Übergänge geben. Möglicherweise ist die genannte Frage nach der Anerkennung einer christlichen Gemeinschaft als Kirche ein solcher Fall (der noch einmal dadurch komplizierter wird, dass neben der sachlichen und der interpersonalen hier zusätzlich die institutionelle Ebene eine wichtige Rolle spielt). Differenzierung 2: Vom Gabediskurs lernen Die zweite Differenzierung bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen der eher „formalen“ Anerkennung von Institutionen oder Personen im Blick auf Status, Rechte etc., und der „interpersonalen“ Anerkennung. Hier können wir von den inzwischen extensiven Forschungen zum Gabentausch lernen. 8 Das, was Marcel Mauss beispielsweise über weite Strecken in seinem Klassiker über den Gabentausch als „Gaben“ beschreibt, funktioniert nicht wie Weihnachtsgeschenke im 21. Jahrhundert. Vielmehr handelt es sich um wechselseitige Gabepraktiken in vorstaatlichen Gesellschaften. Dabei geht es in der Regel nicht um Individuen, sondern um Familien oder Clans, die sich über den zeremoniellen Gabentausch wechselseitiger Anerkennung versichern. Hier sind also Ebenen noch nicht 8 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, 2. Aufl. (Frankfurt a.M., 1994); Marcel Hénaff, Le prix de la verité. Le don, l’argent, la philosophie (Paris, 2002); Paul Ricœur, Parcours de la reconnaissance : Trois études (Paris, 2004).

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