Perspectief 2017-37

Perspectief 36 Bisschop Martin Hein auf die Heilige Schrift, ebenso in anderen Kirchen möglich. Doch die wird mit Sicherheit anders aussehen, als sie es unter den Bedingungen des 16. Jahrhunderts tat! Denn auch die katholische Kirche in der heutigen Gestalt verdankt sich der Reformation: Über Jahrhunderte geschah die Begegnung mit der Reformation in Abgrenzung, aber seit dem II. Vatikanischen Konzil in Annäherung und Aufnahme reformatorischer Impulse! Wir beobachten mit großer Spannung, wie nun Papst Franziskus seine Kirche aus dem Geist der Liebe Christi zu erneuern versucht und erkennen viele Impulse der Reformation wieder. Hier kann das, was im 16. Jahrhundert geschah, keineswegs modellhaft-normativ sein, sondern nur exemplarisch: Wir können aus der Geschichte der Reformation erheben, welche theologischen Entscheidungen welche strukturellen Entscheidungen nach sich zogen. Wir sind aber nicht genötigt, diese strukturellen Entscheidungen zur Legitimierung heutiger Entscheidungen zu machen! Das „Anciennitätsprinzip“, das Wahrheit mit Alter identifiziert, ist in einer reformatorischen Kirche nicht anwendbar. Reformatorische Kirchen stehen vielmehr immer in kritischer Distanz zu ihrer eigenen Geschichte und können in größter Freiheit nach dem Motto des Apostels Paulus handeln: „Prüft aber alles und das Gute behaltet!“ (1. Thess 5,21). 8.6. Der Impuls der Freiheit und die Weltförmigkeit des Glaubens Und schließlich sechstens: Der entscheidende Impuls der Reformation ist der Impuls der Freiheit. Das meint nicht nur die Freiheit von institutioneller Bevormundung, sondern auch die Freiheit zur Gestaltung des christlichen Gemeinwesens durch persönliches Engagement. Dahinter steht die Freiheit des Gewissens. Kirchen geben sich ihre Ordnungen – freilich in Ausrichtung am Evangelium – selbst. Dafür können sie sich an historischen oder gegenwärtigen Modellen orientieren, doch grundsätzlich ist alles möglich, was die Verkündigung des Evangeliums ermöglicht und gewährleistet. Damit treten reformatorische Kirchen auch als gesellschaftliche Institutionen in eine kritische Distanz zu anderen gesellschaftlichen Institutionen – auch zum Staat. Das ist gerade im deutschen Kontext besonders wichtig zu betonen: Wir tragen noch viel Erblast eines „landesherrlichen Kirchenregiments“ mit uns herum, dessen Auflösung 1918/19 eine Fülle von Improvisationen und Halbheiten hervorbrachte, die sich zunehmend als Hindernisse erweisen. Zugleich kann aber eine reformatorische Kirche

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